Zwei Monate Gefängnis für ein Kind: In Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, keine Seltenheit. 500 Minderjährige sitzen derzeit im berüchtigten Makala-Gefängnis – oft wegen kleinster Delikte. Das „Bureau National Catholique de l’Enfance“ (BNCE), seit fast zehn Jahren Partnerorganisation von Caritas international, kämpft für ihre Freiheit.
Elisa Schinke
ist als Referentin Onlinekommunikation bei Caritas international tätig. Sie hat das Projekt von BNCE im Juni 2024 besucht und war zwei Wochen vor Ort. Caritas international fördert die Arbeit des BNCE seit 2015.
Jedes Jahr sterben hier hunderte Menschen an Unterernährung und an fehlender medizinischer Hilfe.
Der Raum, in den Winner gebracht wurde, war düster. Auf dem kalten Steinboden lagen Frauen und Mädchen dicht gedrängt. Die Luft war schlecht, zu viele Menschen auf zu engem Raum. Nur wenige Stunden zuvor war Winner beim Stehlen erwischt worden. Der Hunger hatte sie dazu getrieben. Und jetzt war sie hier: Makala-Gefängnis, Pavillon 9.
Der Weg dorthin dauerte nur wenige Stunden. Von der Polizei direkt zum Haftrichter, wenig später dann die Entscheidung: Zwei Monate Gefängnis. Nicht einmal Winners Familie wurde informiert. Von einem Moment auf den nächsten war die 15-Jährige auf sich allein gestellt. „Ich hatte gehört, dass die Insassen im Gefängnis geschlagen werden. Ich hatte solche Angst“, erzählt sie.
Wenn Annie Milande zur Arbeit kommt, muss sie erst einmal ihren Ausweis zeigen. Sie wird abgetastet, ihr Rucksack kontrolliert. Die Sozialarbeiterin ist für das BNCE tätig. Seit 14 Jahren ist ihr Arbeitsort Pavillon 9, Makala. Ihr Job ist es da zu sein, wenn das Leben der Heranwachsenden aus den Fugen geraten ist. „Wenn die Kinder ankommen, gibt es diesen einen Moment, in dem sie realisieren, was passiert ist. In dem sie verstehen: Ich bin im Gefängnis, eingesperrt. Erst werden sie nachdenklich, dann müssen sie weinen.“
„Mama Annie“
Annie Milande hat Winner in diesem Moment aufgefangen. „Mama Annie“ nennen sie die Kinder in Makala, weil sie zuhört, tröstet, Streit schlichtet, ein Auge auf alle hat. Denn Makala ist kein guter Ort. Man könnte sagen: Hier endet die Kindheit. Essen gibt es nur einmal am Tag. Hunderte Häftlinge teilen sich eine Toilette. Geschlafen wird auf dem nackten Steinboden oder auf dreckigen Matratzen. Jedes Jahr sterben hier hunderte Menschen an Unterernährung und an fehlender medizinischer Hilfe. Jugendliche wie Winner sind gemeinsam mit Müttern und ihren Kleinkindern untergebracht. Das verstößt klar gegen das Kinderschutzgesetz. Erst neulich sei ein Mädchen mit einer brennenden Zigarette von einer Erwachsenen verletzt worden, erzählt Annie Milande. Aber an der Lage ändern tut das nichts. Das Gefängnis platzt aus allen Nähten.
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Ein defektes System
Die Demokratische Republik Kongo ist eines der ärmsten Länder weltweit und hält nur wenig Unterstützung für Kinder und Jugendliche bereit. Laut offiziellen Statistiken leben mindestens 70.000 Kinder auf der Straße, die Dunkelziffer liegt vermutlich höher. Viele Kinder stammen aus armen und schwierigen Verhältnissen. Auch Winner lebte lange bei ihrem sehr kranken Vater, der sie nicht versorgen konnte.
Dennoch gibt es kein Hilfesystem: Es fehlt an Sozialarbeiter_innen, an Unterstützungsangeboten, Pflegefamilien, Inobhutnahmestellen. Die Gefängnisstrafe ist die einzige Karte, die der Staat ziehen kann. Und so landen viele Kinder schon bei kleinsten Delikten im Gefängnis.
Den Mangel ausgleichen
Weil das Justizsystem nicht zuverlässig arbeitet, müssen Menschen wie Annie Milande den Überblick behalten: Welches Kind wurde entlassen? Wo ist es untergekommen? Wer ist neu im Gefängnis? Was ist der Grund für die Inhaftierung? Über jedes Kind im Pavillon 9 führt die Sozialarbeiterin akribisch Buch. Niemand darf vergessen werden. Das kleine Büro von BNCE ist der einzige Ort im Gefängnis, wo die Kinder sich sicher fühlen und sich langsam öffnen können. Hier sprechen sie mit der Sozialarbeiterin über die Stimmung Zuhause, das Leben auf der Straße, manchmal über Gewalt und Missbrauch. Wie kleine Puzzleteile fügt Annie Milande die Informationen zusammen, bis sie zu verstehen beginnt, wo die Probleme liegen und – wie es weitergehen kann.
Zuhören und da sein
Annie Milande wird bei ihrer Arbeit von Aimé Adji Ngaliema unterstützt. Er ist Psychologe und ebenfalls Teil des von Caritas international geförderten BNCE-Teams in Makala. Mit manchen Kindern sucht er allein das Gespräch, über andere Themen reden sie in der Gruppe. Mit Entspannungstechniken versucht er den Kindern den Druck zu nehmen, spielt mit ihnen schwierige Situationen in Rollenspielen nach. „Was die Kinder am meisten belastet, ist das unbändige Gefühl raus zu wollen“, erklärt er. „Sie wollen weg, aber sie dürfen nicht.“
Kein Kind vergessen
Das Kinderschutzgesetz der Demokratischen Republik Kongo sieht vor, dass Kinder höchstens zwei Monate inhaftiert werden dürfen. Aber manche Kinder bleiben vier oder auch sechs Monate eingesperrt – sie werden schlichtweg vergessen. Betritt man eines der insgesamt fünf Kindertribunale in Kinshasa wird auch klar warum: Bis unter die Zimmerdecke stapeln sich die Akten, ein Sinnbild der Überlastung. Es fehle an ausgebildeten Kindern- und Jugendrichtern, an Anwält_innen, die den Kindern zur Seite stehen, an guter Präventionspolitik betont die Juristin Beatrice Bitenda, die ebenfalls für BNCE arbeitet. Damit nicht die Kinder es sind, die die politischen Versäumnisse ausbaden müssen, springt sie in die Bresche, vertritt sie vor Gericht und holt sie aus dem Gefängnis.
Die Zukunft im Blick
Das Team des BNCE nutzt jede Möglichkeit, um mit den Kindern über die Zeit nach dem Gefängnis zu sprechen. Wo werden sie wohnen? Wovon können sie leben? Welchen Beruf möchten sie erlernen? Eine Ausbildung ist für viele Heranwachsende der entscheidende Schritt in die Freiheit und Selbstbestimmung. „Wir schaffen es nicht mit allen Kindern in Kontakt zu bleiben. Aber bei vielen bleiben wir dran“, betont Annie Milande. Bei Winner zum Beispiel. Ihre Geschichte hat ein vorläufiges Happy End: Im September hat Winner ihre Ausbildung zur Näherin begonnen. „Ich liebe es zu nähen. Ich möchte das auch für meinen Vater tun“, sagt sie voller Zuversicht. „Und ich möchte nie wieder ins Gefängnis.“
Weitere Informationen über Winner finden Sie unter:
Zu den Bildern:
(Titelbild) Annie Milande (1.v.l.), Sozialarbeiterin des BNCE, unterstützte Winner während ihrer Haft. „Der schönste Moment an meinen Tagen im Gefängnis war, wenn Annie und ihre Kollegen da waren”, findet die 15-Jährige. Die beiden halten bis heute Kontakt. Winner lebt heute bei ihrer Tante (rechts im Bild), ihren Vater besucht sie regelmäßig. ©Elisa Schinke/Caritas international
(Beitragsbilder) : In den sogenannten „Kindertribunalen“ in Kinshasa stapeln sich die Fall-Akten. Immer wieder kommt es dazu, dass Kinder im Gefängnis vergessen werden. Winner hatte Glück, sie kam nach zwei Monaten frei. Im September hat sie eine Ausbildung zur Näherin begonnen. © Elisa Schinke/Caritas international